Die jüngste politische Entwicklung, das sind die Nachwahlen zum Parlament vom 1. April 2012, bei der Suu Kyi‘s Nationale Liga für Demokratie (NLD) von den 44 Wahlbezirken, in denen sie Kandidaten aufstellte, 43 gewann. Sogar in Naypyidaw, der Hauptstadt, die voll von Regierungsbeamten ist, gewann die Solidaritäts- und Entwicklungspartei der Union (USDP), die Partei des Staatspräsidenten Thein Sein, keinen der drei zur Wahl stehenden Sitze. Bei den letzten Wahlen im November 2010 hatte sie hier noch über 90 Prozent der Stimmen erreicht.
Warum die Angst vor den Wählern? „Es sind nicht nur die Wähler, die auch, es sind auch die ausländischen Anhänger der Lady.“ Aber beginnen wir in Myanmar/Burma. Was ist faul mit denen, die so massenhaft die NLD gewählt haben? „Sie entscheiden nicht mit dem Kopf, sondern mit ...“ Soe Hlaing zögert, das richtige Wort will ihm nicht einfallen. „... mit dem heißen Herzen“. Es ist so als ob es eine Königin zu küren gälte, die alle verehren, aber nicht Politiker, die das Land voran bringen sollen.“
In der Tat – die Verehrung für Aung San Suu Kyi ist überall zu sehen. Es gibt einen neuen Erwerbszweig in Myanmar/Burma. Straßenhändler verkaufen jetzt Bilder von Aung San Suu Kyi und das Emblem der NLD, mit einem Herzen darauf und der Aufschrift „We love Suu“ - „Wir lieben Suu.“ Die Aufkleber sehen aus wie Votivbilder aus dem Wallfahrtsort Lourdes.
Der Grund für den überwältigenden Wahlsieg war diese Liebe, darin sind sich in Myanmar alle einig. Kaum einer der Kandidaten der NLD, die sich in verschiedenen Landesteilen zur Wahl gestellt haben, weil die 2010 Gewählten Regierungsämter übernommen haben, hätte die Wahl gewonnen, wenn er nicht für ihre Partei angetreten wäre. Dazu kommt, dass es der Partei an qualifizierten Leuten fehlt, meint Soe Hlaing. Viele Anhänger leben jetzt im Ausland, andere haben die Partei verlassen, als sie beschloss die Wahlen von 2010 zu boykottieren. Einige wenige davon sitzen jetzt für andere Parteien in den Parlamenten. Was werden Daw Suu und ihre kleine Fraktion, die jetzt in der Volkskammer gerade zehn Prozent der Sitze hat, also im Parlament machen, das zum ersten Mal am 23. April zusammentreten wird?
Angst vor der Konfrontation
Die Partei könnte auf Konfrontationskurs gehen, befürchten einige Analysten, die von der Myanmar Times, einer englischsprachigen Zeitung, befragt wurden. Die Einheit aller Abgeordneten, die gemeinsame Grundlage des Parlamentes, könnte dann gefährdet sein. Wo Liebe ist, ist der Hass nicht weit. „An der vergifteten Atmosphäre zwischen den Politikern ist das parlamentarische System in den 50er und 60er Jahren hier schon einmal gescheitert.“, so Maung Wuntha, der bei den Wahlen 1990 für die NLD einen Sitz in einem Parlament gewann, das nie zusammen trat. „Und die Wahlen von 1990, die mit einem überwältigenden Wahlsieg der NLD endeten, bildeten den Anfang einer 20jährigen Konfrontation, die jetzt zu Ende gehen sollte.“
Diese Befürchtung wurde dadurch bestärkt, dass die Abgeordneten der NLD am 23. April ihre Parlamentssitze nicht einnahmen. Sie weigerten sich, den in der Verfassung vorgeschriebenen Eid zu leisten. Das Versprechen, die Verfassung zu schützen, solle abgemildert werden. Mit dieser Forderung wurde eines der drei Ziele angesprochen, mit denen Aung San Suu Kyi in die Wahl gegangen war, nämlich die Verfassung zu ändern. Diese sieht u.a. vor, dass 25 Prozent der Abgeordneten Angehörige des Militärs sind. Diese 25 Prozent bilden wiederum eine Sperrminorität, denn eine Verfassungsänderung erfordert eine Dreiviertelmehrheit im Parlament. Sollte die Quote der parlamentarischen Präsenz des Militärs in den Mittelpunkt der Arbeit des NLD gestellt werden, könnte der in der Bevölkerung weit verbreitete Hass gegen die Streitkräfte wieder neue Nahrung bekommen. „Daher ist Kooperation angesagt, nicht Konfrontation“, so Dr. Nay Zin Latt, ein politischer Berater des Präsidenten, der vor kurzem in Deutschland war. Der Konflikt wurde durch ein Einlenken der NLD beendet. Eine Woche nach Eröffnung des Parlamentes leisteten die neu gewählten Abgeordneten, also auch Aung Suu Kyi, den Eid in der von der Verfassung vorgesehenen Form. „Wir haben den Erwartungen des Volkes nachgegeben“, sagte die „Führerin“, wie sie von den NLD-Mitgliedern genannt wird.
Damit ist der Weg offen, die beiden anderen Hauptanliegen Aung San Suu Kyi‘s in die Debatten des Parlaments einzubringen. Dass das Rechtssystem Myanmars/Burmas gründlich reformiert werden muss und ein dauerhafter Frieden zwischen den verschiedenen ethnischen Gruppen im Lande nötig ist, steht außer Frage. Und dann sind da ja noch die anderen drängenden Probleme wie der Ausbau des Erziehungs- und Gesundheitssystems, die Bekämpfung der Armut und die Schaffung von Rahmenbedingungen für eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung.
Das alles aber, so meint nicht nur Soe Hlaing, interessiert schon viele Mitglieder der Partei erst in zweiter Linie. Sein Han, ein älterer Muslim aus Mandalay in Obermyanmar und einer der Anwälte Aung San Suu Kyis fasste seine Erwartungen für die nächste Zeit schon vor den Wahlen so zusammen: „Erst gewinnen wir alle Sitze bei den Nachwahlen, dann wird Daw Suu die Führerin der Opposition im Parlament, und 2015, bei den nächsten allgemeinen Wahlen gewinnen wir alle Sitze, und zwar wegen unserer Führerin.“ Für eine Minderheit im Lande klingt das bedrohlich - nicht wegen Aung San Suu Kyi, sondern wegen ihrer Anhänger.
"Was hier gerade abgeht hat mit Demokratie wenig zu tun"
Solche Perspektiven bringen Khin Khin Myint auf die Palme. Sie hat in den USA studiert und ist nach Myanmar/Burma gekommen, um ihrem Land beim Aufbau neuer Strukturen und eines neuen Bewusstseins der Bevölkerung zu helfen. „Was hier gerade abgeht“, meint sie wütend, „hat mit Demokratie wenig zu tun.“ Was sie mindestens genauso ärgert: Der Westen stimmt in den frenetischen Jubel der Anhänger Aung San Suu Kyis ein und preist den Wahlsieg als einen Meilenstein in der Entwicklung des Landes. Der Westen, allen voran die USA und Großbritannien, behandeln Aung San Suu Kyi so, als sei sie die Regierungschefin und Thein Sein ihr tapferer Helfer.
Wenn Daw Suu sagt, wie jüngst beim Besuch von David Cameron, dem britischen Premier geschehen, dass die westlichen Sanktionen nicht aufgehoben, sondern ausgesetzt werden sollen, dann wird das britische Politik. „Und wenn die Dame es sich anderes überlegt, überlegt es sich auch der Westen anders. Ein Bild zusammen mit Daw Suu im Fernsehen ist offenbar vielen westlichen Politikern wichtiger als eine gründliche Analyse, furchtbar“.
Da kommen nun die ausländischen Anhänger Aung San Suu Kyi‘s ins Spiel, vor denen man sich fürchten kann. Zuerst einmal fallen sie jetzt mit ihren guten Absichten und ihrem vielen Geld ins Land ein und tragen vielleicht so zu einer Entwicklung bei, die das Gegenteil von dem bewirken könnte, was beabsichtigt ist. Das liegt nicht nur daran, dass die Entwicklung Myanmars/Burmas wohl zu schnell und von oben nach unten erfolgen wird, anstatt langsam und von unten nach oben, weil die Akteure vor den Kräften der Globalisierung schon kapituliert haben, bevor die überhaupt angefangen hat zu greifen.
Viel gravierender ist der Umstand, dass die Macher von außen von dem Objekt ihres Eingreifens viel zu wenig wissen. Das Problem Myanmars/Burmas ist ja nicht nur, dass es sich so lange von dem Rest der Welt isoliert hat, sondern vor allem, dass die Welt sich von dem abgekoppelt hat, was grundlegende Elemente der politischen und wirtschaftlichen Kultur des Landes sind. Und die Verantwortung dafür an Suu Kyi delegiert.
Damit handeln sie ähnlich wie die Wähler Myanmars. Deren Wahlverhalten folgt einem alten buddhistischen Mythos, in dem die Urwahl des ersten Präsidenten auf Erden geschildert wird. Der wurde einstimmig gewählt, per Akklamation sozusagen, und regierte auf Lebenszeit. Sein Auftrag war, die chaotische Natur der Menschen im Zaum zu halten und sie davon zu entlasten, ihre Angelegenheiten selbst zu regeln. Der Große Erwählte sollte für Gesetz, Ordnung und Frieden sorgen und bekam dafür als Gegenleistung eine Abgabe an Reis, also die ersten Steuern. Die Auswahl fiel auf den „stattlichsten, schönsten, angenehmsten und tüchtigsten“ unter den vom gesellschaftlichen Chaos bedrohten, und das ist eine ziemlich treffende Beschreibung von Aung San Suu Kyi – wie auch ihres Vaters Aung San, vom Stichwort Schönheit vielleicht abgesehen, der bei der ersten Nachkriegswahl in Birma mit der von ihm geführten Liga fast alle Sitze im ersten Parlament Birmas gewann. Da es nur jeweils einen geben kann, der oder die erwählt wird, so Soe Hlaings Logik, ist Kooperation mit der anderen Seite weder möglich noch nötig. Aung San Suu Kyi selbst sieht das wahrscheinlich anders. Sie hat immer darauf hingewiesen, dass sie Niemand sein will, von der Wunderdinge zu erwarten sind, sondern eine Vertreterin des Volkes, die das artikuliert, was die Leute wollen. „Sie hat immer wieder betont, dass es in unserer Kultur eine Reihe von Denkweisen gibt, die geändert werden müssen, etwa dass die Ursache für Missstände immer nur bei den anderen gesucht wird. Aber die Botschaft, dass man selbst anpacken muss, ist bei der breiten Bevölkerung bisher nicht angekommen.“
Die nächsten Monate werden zeigen, wohin die Reise geht
Die nächsten Monate werden Hinweise geben, wohin Myanmars/Burmas Reise gehen könnte. Was wird das erste Thema sein, dass Aung San Suu Kyi im Parlament zur Sprache bringt, wenn es am 4. Juli wieder zusammen tritt? Anders als in westlichen Demokratien, sind Grundsatzdebatten in den Geschäftsordnungen der Parlamente nicht vorgesehen. Fragen können gestellt und Gesetze eingebracht werden. Alles ist auf Konsens angelegt, aber die Nachwahl vom 1. April zeigt, dass im Lande immer noch jene „Wir gegen sie“ Stimmung dominiert, die dem Land schon so oft geschadet hat.
Und wird sie vielleicht ein Amt innerhalb des Regierungsapparats annehmen? Ihre Anhänger befürchten so etwas, weil sie dann ihr Parlamentsmandat aufgeben müsste. Eine weitere Nachwahl wäre nötig. Ein solcher Schritt wäre wirklich ein Meilenstein, weil sie damit zeigen würde, dass sie das von den Militärs eingerichtete System akzeptieren würde. Aber sie hat einen solchen Schritt vor der Wahl schon abgelehnt – fürs Erste jedenfalls. Und die „Stimme des Volkes“, auf die zu hören sie versprochen hat, ist hier ganz eindeutig.
„Sie war lange Jahre eine Geisel des Militärs“, meint Soe Hlaing abschließend. Nun ist sie auch eine Geisel ihrer Anhänger.“ Das ist ein hübsches Dilemma. Als Intellektueller liebt Soe Hlaing solche Zwickmühlen, als Bürger Myanmars/Burmas eher nicht.
Die ausländischen Beobachter tun gut daran, nicht nur auf die Stimme Aung San Suu Kyi‘s zu hören, sondern auch auf die ihrer Anhänger sowie auf die kleine Minderheit im Lande, die die Rolle der Führerin der Opposition kritisch sieht.
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Literaturhinweis:
„The Beast and the Beauty. The History of the Conflict between the Military and Aung San Suu Kyi in Myanmar, 1988-2011, Set in a Global Context“. Berlin, 2012, regiospectra Verlag.
Dossier
Myanmar/Burma einen Schritt weiter auf dem Weg zur Demokratie?
Die Nachwahlen in Myanmar/Burma am 1. April 2012 haben viel internationales Interesse auf sich gezogen. Die Öffnungspolitik der Regierung Thein Seins und die neue politische Situation bieten ungeahnte Optionen für das stark isolierte Land. Das Dossier gibt eine Momentaufnahme von Eindrücken aus deutscher Sicht und der Region wieder. Es fängt Stimmen aus China, Thailand, Indien und Myanmar/Burma ein.